Allgemeine Ernährungstipps bringen nichts, zeigen neue Studien. Jeder Mensch verdaut seine Mahlzeiten individuell.Vor dem Essen fotografieren wir mit dem Smartphone die Spaghetti mit Sauce auf unserem Teller. Eine App spuckt Sekunden später die Empfehlung aus: Ja, das Essen ist o. k., aber die Portion zu gross, und ausserdem fehlt der Salat.
So etwa könnte eine personalisierte Ernährung aussehen. Zuvor haben wir dem Programm ein paar Daten verraten: Grösse, Gewicht, Hüftumfang. Wir haben ein Stück Filterpapier mit getrockneten Bluttropfen und ein Wattestäbchen mit einem Abstrich aus der Mundhöhle an ein Labor geschickt. Dort hat ein Mitarbeiter im Bluttropfen einige Stoffwechselprodukte gemessen: Fettsäuren oder Folsäure etwa. Zudem hat er in den Schleimhautzellen des Abstrichs ein paar Gene analysiert, die mitentscheiden, wie wir unsere Nahrung verwerten: zum Beispiel, wie effektiv wir Fett verbrennen. Präzise Vorhersagen über die Zusammensetzung des Blutes Aus all den Daten errechnet das Programm, wie viel Energie wir höchstens zu uns nehmen sollten, um schlank zu bleiben, oder welche Nährstoffe wir für eine gute Gesundheit benötigen. Was wie ferne Zukunftsmusik klingt, wird derzeit entwickelt und zum Teil bereits erprobt. Hannelore Daniel von der Technischen Universität München stellte eines dieser Programme vorletzte Woche auf der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung in Bern vor. Daniel hat am grössten Projekt auf dem Gebiet der personalisierten Ernährung mitgewirkt. Das EU-Programm, genannt Food4me, ist kürzlich abgeschlossen worden. Daniels Team wollte wissen, wie sich personalisierte Ernährungsempfehlungen auf die Nahrungsaufnahme von Testpersonen auswirken und ob individuelle Empfehlungen mehr Erfolge haben als allgemeine. Die EU-Forscher hatten in sieben Ländern insgesamt mehr als 1600 Frauen und Männer über das Internet rekrutiert und teilten die Studienteilnehmer in vier Gruppen ein: die Kontrollpersonen erhielten online allgemeine Gesundheitsempfehlungen, etwa sich mehr zu bewegen und ausgewogen zu essen. Bei der zweiten Gruppe berücksichtigten die Forscher, was die Teilnehmer zu sich nahmen, und passten die Empfehlungen individuell an, bei der dritten flossen zusätzlich die Informationen aus den Blutwerten mit ein und bei der vierten zudem die genetischen Daten. Allein die Gene zu betrachten, reicht nicht aus. Das positive Ergebnis: Die individuellen Empfehlungen halfen den Teilnehmern besser, sich gesünder zu ernähren, als die allgemeinen Empfehlungen. Als Nebeneffekt nahmen viele ab. Eher ernüchternd dagegen: Es machte keinen Unterschied, ob die Forscher zusätzlich Blutwerte und genetische Ausstattung der Probanden kannten. Die Umsetzung der Empfehlungen und die Ernährung wurden dadurch nicht besser. Allein die Gene zu betrachten, reicht offenbar nicht aus. Das obwohl Firmen im Internet seit einigen Jahren Gentests anbieten und darauf basierend individuelle Gesundheits- und Ernährungsempfehlungen abgeben. Wie gut diese zutreffen, ist jedoch kaum wissenschaftlich untersucht worden. Die meisten Studien auf dem Gebiet sind unzureichend, und diejenigen, die ein Team des Cochrane-Netzwerks ausgewertet hat, zeigen bisher kaum Effekte. Wichtiger sei, wie die Gene im Körper angeschaltet würden und welche Stoffwechselprodukte sie freisetzten, sagte Guy Vergères, Leiter der Forschungsgruppe Funktionelle Ernährungsbiologie bei Agroscope in Bern. In puncto Blutwerte gibt es bereits erste konkrete Erfolge. So ist es einem israelischen Team gelungen, präzise Vorhersagen zu treffen, was sich bei einem Menschen im Blut nach einer Mahlzeit verändert. Die Forscher wollten herausfinden, wann Personen gefährdet sind, Diabetes Typ 2 zu entwickeln. Dafür massen sie die Blutzuckerwerte von 800 Freiwilligen, die zuvor exakt das Gleiche gegessen und getrunken hatten. Aktivität der Gene verändert sich im Laufe des Lebens Tatsächlich schwankten die Werte enorm. Das Team entwickelte daraufhin Algorithmen, in die neben den Blutwerten zahlreiche weitere Informationen einflossen, etwa Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten sowie die Zusammensetzung der Darmbakterien. So gelang es den Forschern, bei 100 weiteren Testpersonen vorherzusagen, wie ihr Blutzuckerwert nach welcher Mahlzeit steigen würde, wie sie im Fachblatt «Cell» schreiben. Das Fazit: Eine allgemeine, für alle gleich lautende Ernährungsempfehlung nützt nichts. Zum gleichen Schluss kommt Vergères mit seiner Gruppe aufgrund einer kleinen Studie. Den Berner Forschern ging es primär nicht darum, welche Genvarianten eine Testperson besitzt, sondern vielmehr, welche Gene nach einer Mahlzeit aktiv waren. Dabei zeigte sich Folgendes: Nahmen die Studienteilnehmer 1500 Kilokalorien einer fettreichen Mahlzeit zu sich, so waren bei einem Teil der übergewichtigen Testpersonen andere Gene aktiv als bei schlanken Personen. Doch nicht bei allen. Die Gene anderer Fettleibiger reagierten genau wie die der Dünnen. "Frauen seien dabei schlecht erforscht, weil ihr hormoneller Zyklus Studien verkompliziere." Man müsse die Testpersonen einzeln anschauen, schlussfolgert Vergères, und nicht als Gruppe. «Die Leute reagieren individuell.» Und nicht nur das. Auch im Laufe des Lebens verändern sich die Aktivitäten der Gene. Kommt hinzu, dass Männer und Frauen Nahrungsmittel zum Teil sehr unterschiedlich verwerten. Frauen seien dabei schlecht erforscht, weil ihr hormoneller Zyklus Studien verkompliziere, sagte Colleen Fogarty Draper von Nestlé. Sie möchte das künftig ändern. Fogarty Draper arbeitet zudem an einem Programm, das über Fotos die Nährstoffe und die Energie in Mahlzeiten schneller erfassen kann. Noch dient das Programm lediglich als Werkzeug für Forscher, um festzuhalten, wie sich ausgewählte Personen ernähren. Bis eine App die Bilder von den Mahlzeiten auswertet und uns Rückmeldungen gibt, wird es aber noch etwas dauern. Individuelle Speisepläne werden künftig das Zusammenleben verändern Kommentar Anke Fossgreen, Redaktorin Wissen, über die Herausforderungen an eine gesellige Mahlzeit, wenn dank personalisierter Ernährung jeder Mensch einen eigenen Menüplan hat. Ein Abend mit Gästen wird künftig etwas komplizierter. Schon im Vorfeld müssen diese nämlich ihre Genund Stoffwechseldaten abliefern. Die Werte werden verraten, dass Schwager Peter ungesättigtes Fett nicht gut bekommt, Cousine Lisa keine Milchprodukte verträgt und Grosspapi keinen Chabis essen sollte. Willkommen im Zeitalter der personalisierten Ernährung. Allgemeine Ernährungsempfehlungen haben ausgedient. Das überrascht nicht wirklich, kennt doch jeder eine Freundin, die essen kann, was sie will, ohne dick zu werden. Oder einen Freund, der nur ein Tortenstück anschauen muss, um zuzunehmen. Neue Fragen werden sich ergeben. Etwa: Was passiert mit den Daten? Der neuste Trend geht dahin, die entscheidenden Unterschiede im Erbgut zu finden, um so gezielte Empfehlungen abgeben zu können. Doch alleine die Gene einer Person zu kennen, reicht nicht aus. Es braucht noch viele weitere Informationen: etwa, welche Gene nach einer Mahlzeit aktiv sind, welche Stoffwechselprodukte sie freisetzen, wie hoch die Blutzuckerwerte sind oder welche Bakterien im Darm beim Verdauen helfen. Nehmen wir an, es sei künftig tatsächlich möglich, aus all diesen Daten individuelle Speisepläne und Bewegungsprogramme zusammenzustellen. Dann ergeben sich neue Fragen. Etwa: Was passiert mit den Daten? Im besten Fall helfen sie uns, weil wir die individuellen Empfehlungen befolgen und es uns entsprechend gut geht. Im schlechtesten Fall erhöht die Krankenkasse die Prämie, wenn die aktuellen Blutwerte zeigen, dass wir doch wieder zu viel fettes Fleisch gegessen und zu viele Süssigkeiten genascht haben. Die moderne Gastgeberin würde derweil die Daten ihrer Besucher nur dazu nutzen, daraus ein adäquates, für alle Gäste gleich gesundes Menü zusammenzustellen. Hoffentlich fangen dann die Kinder nicht an zu maulen, weil eines keinen Broccoli mag, das andere keine Kartoffeln. Quelle: SonntagsZeitung
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März 2017
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